Taunus-EDITION, Winter 2004/05, 29.12.2004

"Kind, lass das doch mit dem Singen. Du hast doch gar keine Stimme!" Was macht eine brave Tochter, wenn sie diesen wirklich wohl gemeinten Rat von einer ausgebildeten Sopranistin bekommt, die noch dazu die eigene Mutter ist? Es trotzdem versuchen, wäre die Antwort, die Ulrike Neradt heute wohl geben würde. Schließlich hatte sie damit doch auch Erfolg gehabt. Und was für einen!

Ihre Liederabende beim Rheingau-Musik-Festival gehören heute zu den Publikumsmagneten der Festspiele. Beim Südwestfunk ist sie als singende Wirtin des "Fröhlichen Weinbergs" längst eine feste Größe, und das Mainzer Unterhaus füllt sie mit ihrem Chanson-Programm mal eben im Alleingang. All das, weil die Martinsthalerin "ein Mal" nicht auf die Frau Mama gehört hat. Sollte sich die Mutter so sehr in den Fähigkeiten der Tochter getäuscht haben?

"Oh nein", insistiert Ulrike Neradt lachend im Gespräch mit der TAUNUS Edition. Sie selbst sei doch auch davon überzeugt gewesen, dass sie nicht singen könne. Theater spielen, das und nichts anderes war es, was die damals 32-Jährige wollte, als sie 1984 gemeinsam mit der Mundartdichterin Hedwig Witte das Rheingauer Volkstheater aus der Taufe hob. "Die Hallgartner Jungfer" hieß das Stück, welches das Amateur-Ensemble aus den Arbeiten von Hedwig Witte für die erste Aufführung ausgewählt hatte. Ein Schwank, prall gefüllt mit allem, was den Rheingau ausmacht. Eine große Portion Humor, serviert mit typischer, aber doch gut verständlicher Mundart, dazu ein süffiger Riesling und nicht zuletzt viel Musik.

"Jetzt singen sie doch mal", hatte mich unser musikalischer Leiter Hans Hohner damals gedrängelt, erinnert sich die Künstlerin noch heute amüsiert an den Beginn der Proben zurück. Sie konnte ja nicht ahnen, dass dies der erste Schritt auf der Karriereleiter werden sollte. "Ach Du lieber Gott, sind sie aber unmusikalisch." Gerade mal eine Quinte und zwei unterschiedliche >Las< hatte Hohner seiner Schülerin entlocken können. Eine echte Herausforderung für jeden Komponisten. "Also gut, ich schreibe jetzt für ihre zwei >La la's< ein kleines Duett. Das werden sie schon hinkriegen." Der Abend der Premiere wurde zur Feuertaufe. Der Saal proppenvoll, die Erwartungshaltung riesengroß und das Lampenfieber am Siedepunkt. Sie sang aus Leibeskräften - traf mal den richtigen und wohl auch mal den falschen Ton. Doch dem Publikum gefiel's. Im Konzertgraben entdeckte Ulrike Neradt ihren Maestro kopfschüttelnd am Klavier: "Ich hatte ihn ja gewarnt, war der erste Gedanke, der mir in den Sinn kam."

Was das Kopfschütteln bedeutete, erfuhr sie erst am nächsten Tag von Hedwig Witte: "Die Frau kann viel mehr, die braucht einfach nur Publikum", hatte Hohner am Abend der Premierenfeier verkündet und damit das Angebot verbunden, die vermeintliche Quintensängerin zur wirklichen Chansonnette auszubilden. Diese Chance nahm sie natürlich sofort wahr und pilgerte jeden Freitag zu ihrem Lehrmeister. Innerhalb von drei Monaten hatte sie ein kleines Programm erarbeitet, das sie Freunden und Verwandten präsentierte. Ihren Beruf als Medizinisch-Technische-Assistentin hängte die Tochter des Martinsthaler Winzer-Ehepaares Rosemarie und Hanshermann Seyffardt jedoch nicht gleich an den Nagel.

1970 zunächst zur Martinsthaler Ortsweinkönigin gekürt, bestieg die damals gerade 22-Jährige zwei Jahre später in Stuttgart sogar den deutschen Thron. Natürlich seien Vater und Mutter stolz gewesen, doch irgendwie ist die gut gemeinte elterliche Grenzziehung für die erfolgreiche Künstlerin auch heutenoch bindend: "Auch wenn Du auswärts die Königin bist, zuhause bist Du immer noch unsere Tochter."

So sehr sie es genießt, auf der Bühne zu stehen und gefeiert zu werden, so sehr bemüht sie sich aber auch, den Rummel hinter sich zu lassen, wenn sie das Ortsschild von Martinsthal passiert. Denn dort lebt sie nach wie vor mit Ehemann Fritz.

Ganz in der Nähe wohnen Schwester und Bruder und direkt hinter dem eigenen Garten genießt sie den Blick auf die sanft ansteigenden Wein-berge: "Mein Mann, meine Familie, mein Haus und mein Rheingau", zählt die 53-Jährige ihre ganz private Hitliste der wichtigsten Dinge in ihrem Leben auf. Ihr Heimatort ist stolz auf ihre "Ulli" - nach wie vor ist sie die Vorsitzende des Rheingauer Mundartvereins, und neuerdings hat sie auch noch die Schirmherrschaft für das erste Hospiz im Rheingau-Taunus-Kreis übernommen: "Das ist schon eine Sache, die ich nicht so einfach wegstecke", unterstreicht sie nachdenklich.

"Literarische Kabarettistin" lautet die genaue Berufsbezeichnung, die sich Ulrike Neradt wählte, als sie sich 1990 entschloss, die Tage im Labor gegen die Abende auf der Bühne einzutauschen. Dass dazu auch noch zahlreiche Stunden vor den Fernsehkameras kommen würden, hätte sie nicht zu träumen gewagt.

Ein zufälliges Gespräch mit dem leitenden Redakteur über eine freie Moderatorenstelle beim SWF, eine mutige mündliche Bewerbung ("Nehmen Sie doch mich") und ein Casting ("Das ist das Schlimmste was es gibt") brachten Ulrike Neradt 1994 an die Seite von Sternekoch Johann Lafer. Was war das für ein Gefühl, als sie die Nachricht erhielt, dass das Fernsehen vier Folgen des "Fröhlichen Weinbergs" mit ihr drehen wollte? "Das war wie Weihnachten und Geburtstag an einem Tag." Mittlerweise hat die charmante TV-Wirtin den Fernseh-Wingert 118 Mal erklommen und weitere Folgen sind geplant.

Zudem ist die vielseitig interessierte und talentierte Rheingauerin unter die Mundartautoren gegangen und hat vor wenigen Wochen ihr erstes Buch auf den Markt gebracht: "Wie en Spatz in de Kniddele" lautet der Titel des humoristischen Erstlingswerkes, in dem Ulrike Neradt ihre Jugenderinnerungen mit spitzer Feder und reichlich Dialekt skizziert hat.

Ein zweites Buch ist bereits in Arbeit. An den Tagen, an denen sie nicht vor der Kamera steht oder am Schreibtisch sitzt, gastiert die begeisterte Diseuse auf den Kleinkunstbühnen der Republik- mit Chansons von Friedrich Holländer, Kurt Tucholsky bis zu Erich Kästner. Oft begleitet von ihrem größten Fan: ihrer Mutter. Denn die ist heute froh und stolz zugleich, dass ihre erfolgreiche Tochter "ein Mal" nicht auf den guten Rat der Frau Mama gehört hat.

Jens T. Gnauf
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