Energiebündel mit Charme

Frankfurter Allgemeine Zeitung

Eine Amtszeit als Weinkönigin formt unbestreitbar die Persönlichkeit. Junge Frauen lernen, vor großem Publikum aufzutreten, Reden zu halten, sich sicher auf gesellschaftlichem Parkett zu bewegen, und sie machen ganz nebenbei die Erfahrung, daß auch Politiker und Prominente "normale" Menschen mit Stärken und Schwächen sind.

Keine andere Deutsche Weinkönigin hat diese Chance zur Persönlichkeitsentwicklung so genutzt wie Ulrike Neradt. Heimatverbunden und weltoffen, schlagfertig und charmant, selbstbewußt und sympathisch, ist die energiegeladene Blondine auch heute noch eine attraktive Botschafterin ihrer Region. Sängerin und Schauspielerin, Kabarettistin und Fernsehmoderatorin, Mundartdichterin und Regisseurin: Neradt ist eine an Vielseitigkeit und Talent kaum zu überbietende Künstlerin, die gleichwohl sich und ihrer Heimat treu geblieben ist.

Daß sie einmal Deutsche Weinkönigin wird, soll sie schon im Alter von neun Jahren im Schulbus verkündet haben. Genau 30 Jahre ist es her, da stellte sich die nie um eine passende Antwort verlegene Martinsthalerin anläßlich des Deutschen Weinbaukongresses auf dem Stuttgarter Killesberg zur Wahl und gewann - als vierte und seither letzte Rheingauerin - die Deutsche Weinkrone. Das Schicksal meinte es besonders gut mit ihr, hatte sie doch bei ihren Werbereisen in die Vereinigten Staaten und nach Japan das Glück, den Jahrhundertjahrgang 1971 und ein nagelneues Weingesetz im Gepäck zu haben.

Es entspricht dem vorsichtigen Rheingauer Naturell, auf dem Teppich zu bleiben und eine solide Ausbildung zu beginnen. Neradt, damals hieß sie noch Seyffardt, widmete sich 14 Jahre der Medizintechnik und leitete am Ende das Immunlabor einer Klinik, ehe sie, zum Glück für ihr Publikum, endlich ihren künstlerischen Neigungen freien Lauf ließ.

Sie ist ein regionaler Star ohne Allüren geworden. Sie liebt es, in Rheingauer Mundart zu babbeln, und 1984 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern des Rheingauer Mundartvereins. Die Kindertruppe "Schlappmäul'cher" liegt ihr besonders am Herzen. Daß sie sich für die Amateur-Theatergruppen im Kreis engagiert, ist ein eindeutiges Bekenntnis zur Heimat.

Als Moderatorin des "Fröhlichen Weinbergs", als Chansonsängerin, als Schauspielerin kann sie auf ein treues Publikum zählen. Ihre Veranstaltungen im elterlichen Weingut, wo sie am Montag mit Weggefährten an den aufregenden Krönungstag vor 30 Jahren erinnert, sind Monate im voraus ausgebucht. Den Rheingau erinnert dieses Jubiläum indes an eine nun schon dreißigjährige Durststrecke: Eine Nachfolgerin für den Thron der Deutschen Weinkönigin hat er bis heute nicht hervorgebracht.

OLIVER BOCK
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